Tessitur
Jeder hat beim Singen schon mal die Erfahrung gemacht, dass einem bestimmte Töne nicht so leicht fallen – sie sind so hoch oder tief, dass der Ton nur unter großer Anstrengung oder überhaupt nicht zu produzieren ist. Der Stimmapparat ist einfach überfordert. Umgekehrt gibt es aber einen individuellen Tonbereich, der sich gut anfühlt, in dem alle Töne mehr oder weniger souverän und spielerisch erzeugt werden können. Diesen „Wohlfühlbereich“ nennt man fachlich auch Tessitur. Wo deine Tessitur liegt, und welchen Tonumfang sie hat, hängt mit dem Geschlecht, mit deinen anatomischen Voraussetzungen aber auch mit deiner technischen Fähigkeiten beim Singen zusammen.
Unterschiedliche Stimmtypen
Grundsätzlich unterscheidet man traditionell sechs verschiedene Stimmlagen bzw. Stimmtypen in einer vereinfachenden Systematik:
Männerstimmen
Bass (E2-E4)
Bariton (G2-G4)
Tenor (C3-C5)
Frauenstimmen
Alt (E3-E5)
Mezzo-Sopran (G3-G5)
Sopran (C4-C6)
In den folgenden Grafiken kannst du die dazugehörigen Stimmumfänge auf einer Klaviertastatur sehen:
Während der Bass meist einen Tonumfang von E2 bis E4 aufweist, kommt ein Bariton von G2 bis G4, ein Tenor liegt etwa zwischen C3 und C5.
Bei den Frauen fühlt sich eine Alt-Sängerin ungefähr zwischen E3/F3 und E5/F5 wohl, eine Mezzo-Sopran zwischen G3 und G5 und eine klassische Sopran hat einen Umfang von C4 bis C6.
Register / Registerübergänge
Sicherlich hast du schon bemerkt, dass es Stellen in deiner Range gibt, an denen deine Stimme ihren Charakter, ihre Tonalität verändert. Eventuell bricht deine Stimme sogar. Diese Brüche oder „Knackpunkte“ stellen einen sogenannten Registerwechsel bzw. Registerübergang dar.
Stimmphysiologisch unterscheiden sich bestimmte Arten der Tonproduktion ausreichend, um eine Unterteilung in verschiedene Register zu rechtfertigen. In tieferen Lagen, aber auch beim Sprechen nutzen wir die Bruststimme. Hier schwingen die Resonanzen eines Tons eher im unteren Teil des Luftrohrs und in der Brust. Der Klang ist sonor, warm und rund. Die Stimmbänder sind dabei recht locker. Wenn wir in höheren Lagen singen, dann nimmt der Anteil an Resonanzen im Kopf, etwa in den Nebenhöhlen, deutlich zu. Dieses Register nennt sich Kopfstimme. Die Stimmbänder sind stärker gespannt und der Klang wird heller, konzentrierter, schärfer oder gellender, abhängig davon mit welcher Technik wir singen.
Je nach Lehrart wird davon noch das männliche Falsett unterschieden, ein besonders feines, helles Register ohne Brustresonanzen. Ich plädiere allerdings dafür, das Falsett als Variante der Kopfstimme anzusehen, bei der mehr Luft entweicht. Das heißt: Die Stimmbänder sind weiter geöffnet, so entsteht ein luftigerer, hauchiger Ton. Je mehr Kompression wir beim Singen einsetzen, je mehr wir also die Stimmbänder schließen, desto kraftvoller und dichter klingt es.
Mischstimme
Während Frauen im Allgemeinen von Natur aus ohne Aufwand von der Brust- in die Kopfstimme wechseln können, so dass der Übergang weitestgehend unmerklich und glatt verläuft, ist der Sprung von einem Register in ein anderes bei Männern im nicht ausgebildeten Zustand meist sehr deutlich zu hören. Es ist eine der Hauptaufgaben des Vocal Coachings einen gleichförmigen, stufenlosen Übergang zu erlernen, sich also eine Mischstimme oder Mixed Voice zu erarbeiten. Diese Mixed Voice kann wiederum sanft und leise realisiert werden, oder sehr kraftvoll und laut.
Finde deine Stimmlage heraus
Kommen wir jetzt zur Praxis der Bestimmung deiner Tessitur. Um deine eigene Stimmlage zu ermitteln, probiere Folgendes:
Für den unteren Teil deiner Range singe eine Glissando von oben nach unten, das heißt einen abfallenden, gleitenden Ton in mittlerer (Sprech-)Lage beginnend. Am besten produzierst du den Vokal „O“ und öffnest deinen Mund eher vertikal, nicht in die Breite. Mit diesem nach unten gleitenden „O“ versuchst du jetzt locker so tief wie möglich zu kommen. Der tiefste Ton, den du definiert und reproduzierbar singen kannst, ist der Beginn deiner Tessitur. Notiere ihn dir.
Für den oberen Teil deines Umfangs beim Singen setze wiederum mit einem Glissando an, diesmal aber von unten nach oben singend. Dafür eignet sich sehr gut der Vokal „E“. Bleibe dabei locker, nutze die Resonanzen in deinem Kopf und habe keine Angst vor der „Höhe“. Schleife einfach den Ton von unten nach oben, so weit du kommst. Wenn deine Stimme bricht macht das gar nichts, das ist dein natürlicher Übergang in ein anderes Register bzw. ein Hinweis auf ein noch nicht ausreichend ausgebildetes Zwischenregister. Wiederhole das Glissando nach oben mehrmals, bis du den Bereich identifizierst, wo deine Stimme in eine anatomische Sackgasse kommt. Schreibe dir den Ton auf.
Abgleich mit standardisierten Stimmfächern
Nun gleiche die Töne mit den oben angeführten Tessituren Bass, Bariton und Tenor (Männer) sowie Alt, Mezzo-Sopran und Sopran (Frauen) ab. Ich habe über die Jahre mehrfach getan und mich selbst zunächst als Bariton identifiziert, mittlerweile bin ich ein Tenor – nicht im Sinne eines klassischen Sängers, aber meine Range geht an guten Tagen von D2-C5, mit Mischstimme und Kopfstimme sogar bis G6. Der Wohlfühlbereich, den ich souverän mit der Bruststimme abrufen kann liegt allerdings bei F2-A5. Es kann also sein, dass deine Range kleiner oder größer als die Standardtypen ist, oder sogar genau dazwischen liegt. Die Systematik der Stimmlagen ist also bestenfalls eine Orientierung.
Vielleicht ist dir aufgefallen, dass die Frauenlagen immer jeweils eine Oktave über den Männerlagen liegen. Die natürliche, anatomische „Spannung“ und „Länge“ der Stimmbänder unterscheidet sich zwischen Mann und Frau im Schnitt etwa um eine Oktave.
Stimmtyp – ein starres Konstrukt
Wenn dein höchster zuverlässig und schön produzierbarer Ton als Bariton ein G4 mit der Bruststimme ist, dann ist es sehr wahrscheinlich so, dass du mit der Kopfstimme sogar bis zum C5 oder noch höher kommst. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass du in keiner Weise auf die Definition festgelegt bist. Das ist die wundervolle Seite des Singens. Echte Grenzen gibt es nicht. Mit den richtigen Übungen, mit viel Willenskraft, kannst du deine Range ausbauen. Auch deine Tagesform, deine Gesundheit und Fitness haben einen Einfluss auf den Tonumfang, den du abrufen kannst. Mit der Zeit lernst du deine Kopfstimme so gut zu beherrschen, dass sie als organischer Teil deiner Tessitur erscheint. Entsprechend hast du plötzlich eine ganze Oktave mehr Tonumfang zur Verfügung.
Wie du deine stimmlichen Fähigkeiten dahingehend ausbauen kannst, lernst du bei mir in der OpenMusicSchool. Ich zeige dir, wie du die Ketten deiner Stimme sprengst und spielerisch singen lernst.
Hier findest du den Videokurs, der dir in der Praxis dabei hilft deine Stimmlage zu identifizieren:
Videokurs: Stimmlage ermitteln
Viel Spaß beim grenzenlos Singen!
Dein Vocal Coach Benjamin Cross
Lieber Benjamin,
ein toller Blog, der sich nicht nur für eine Sängerin oder Schauspielerin eignet – auch für Sprecher, Künstler generell oder alle weiteren Interessierten ein wirklich lesenswerter und informativer Artikel rund um die Stimme.
DANKE & gerne mehr solcher Posts 🙂