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Gesangstechnik: Pop/Rock vs. Klassischer Gesang – Die Unterschiede

Die Rolle der Gesangstechnik

Während der Stimmapparat bei allen Menschen weitestgehend identisch funktioniert, unterscheiden sich verschiedene Sänger klanglich teilweise enorm. Zum einen liegt dies an anatomischen Eigenheiten, etwa der individuellen Struktur der Stimmbänder oder der Form und Lage des Ansatzrohrs. Die Textur, der Charakter einer Stimme ist in dieser Hinsicht „gottgegeben“. In seltenen Fällen ist der Stimmklang ein Produkt des Lebenswandels (Kettenraucher haben oft einen gewissen „Sound“, der allerdings meist auf Kosten der Stimmgesundheit geht oder gar den Stimmumfang reduziert).

Der wichtigste Faktor, der die klangliche Variation zwischen Sängern erklärt ist aber die Gesangstechnik. Es spielt keine Rolle, ob ein Sänger sich der Art seiner Tonproduktion bewusst ist. Irgend eine „Technik“ bildet immer das Fundament, ob sie den Namen verdient oder nicht. Die Atmung kann tief oder flach sein, das Zwerchfell schnellt unkontrolliert nach oben oder wird gestützt, der Kehlkopf ist locker und hat einen tiefen Sitz oder ist verkrampft und weit oben. Die Vokalisierung kann je nach Einsatz der Zunge, Position des Epiglottis, Kieferbewegung und Veränderung der Mund- bzw. Lippenstellung sehr unterschiedlich ausfallen. Der eine Sänger singt sehr resonant und kopflastig, der andere wiederum hauchig und sanft. Es gibt dutzende Stellschrauben in der Tonproduktion – dementsprechend wichtig ist die Auseinandersetzung mit der Gesangstechnik.

Grundsätzliche Herangehensweisen

Ganz grob lassen sich zwei große Gesangsbereiche unterscheiden, denen alle anderen Genres in der Herangehensweise zugeordnet werden können. Klassischer Gesang auf der einen, Rock- und Popgesang auf der anderen Seite. Im Folgenden beschreibe ich allgemein einige Unterschiede der beiden Stile.

Vordergründig ist in der klassischen Gesangtechnik das Ziel eine gleichmäßige Stimme. Sie soll über die Passaggio hinweg die Register möglichst ohne Brüche miteinander verbinden. Dabei sollte die Stimme in allen Feinheiten, in Kraft, Leichtigkeit, Projektion, Eleganz, Intonation und Virtuosität ausgebildet sein. Nur dann ist klangästhetische Perfektion nach dem klassischem Ideal zu erreichen. Phrasierung, Farbe, Stimmfach und andere Merkmale unterscheiden sich bei klassische Sängern natürlich mitunter deutlich. Insgesamt aber sind zu große Eigenheiten der Stimme unerwünscht, insofern diese einer mühelosen, sauberen und gesunden Tonerzeugung im Wege stehen. Ausgebildete klassische Stimmen ähneln einander sehr stark. Die stimmliche Individualität ist aus Laiensicht also eher gering ausgeprägt, während Kontrolle, Klarheit und das Volumen klassischer Stimmen häufig besonders herausragen. Diese Stimmen sind im Stande einen Saal ohne Verstärkung komplett auszufüllen.

In den Rock- und Popmusik gelten andere Gesetze. Hier steht weniger die eigentliche Gesangstechnik als vielmehr die Eigenheit eines Sängers im Mittelpunkt. Rauchige, hauchige, kratzige, schrille oder nasale Stimmen sind allesamt erwünscht. Die gesangstechnische Vielfalt ist in der Popmusik ungleich größer, als in der Klassik. Das gilt auch für das sängerische Niveau. Von unsauber intonierenden, glatten Durchschnittsstimmen über virtuose Soul-Diven mit atemberaubenden Koloraturen bis hin zu großartigen Rocksängern mit gewaltiger Range und messerscharfem Vordersitz der Stimme ist alles geboten und alles erlaubt, wenn das Gesamtpaket aus Storytelling, Songwriting, Sound und Erscheinungsbild stimmt. In der Rock- und Popmusik geht es mehr als in der Klassik um die Emotion, die Direktheit, die Lebendigkeit.

Doch was sind genau die Unterschiede, in der Gesangstechnik zwischen klassischem Singen und Rock- und Popgesang?

Konkrete Unterschiede

Lautstärke

Ein oft übersehender Unterschied zwischen Klassik- und Popsängern ist die Lautstärke, die Kraft der Stimme. In der Klassik müssen Sänger in der Lage sein einen Saal ohne technische Hilfsmittel klanglich auszufüllen um gegen ein Orchester zu bestehen. Das geht nur durch eine gute Projektion, optimale Ausnutzung der Resonanzen, korrekte Atmung und Luftkontrolle sowie sauber Lautbildung.

In der Popmusik gibt es typischerweise verstärkte Keyboards, Gitarrenverstärker und mikrofonierte Drums. Der Gesang benötigt also zwangsläufig die Hilfe eines Mikrofons. Das Klanggebilde ist energetischer, synthetischer, größer als die Realität. Ironischerweise ermöglicht genau diese Verstärkung Sängern für alle hörbar in einem flüsternden Ton zu singen, bassige Noten zu hauchen und kurz danach kreischende hohe Töne zu schmettern. Eine durchgängig laute Projektion des Sängers ist also keine Notwendigkeit. Entsprechend wird auch nicht soviel Wert auf die entsprechenden Atem- und Lautbildungstechniken gelegt. Das gilt aber nicht für alle Sänger in der Rock- und Popmusik. Gerade Sänger, die sich auch rein akustisch mit Klavier oder Gitarre begleiten, lernen oft intuitiv ein raumfüllendes, natürliches Singen, dass auch ohne Elektrizität auskommt.

Kehlkopfposition

Typischerweise singen klassische Sänger mit einem „offenen Hals“ – analog zum Gefühl während des Gähnens – und einem mehr oder weniger lockeren, tief sitzenden Kehlkopf (Larynx). Der Klang ist insgesamt also sehr warm und voll, mitunter sogar dunkel. Vor allem bei hohen Tönen ist ein „gedecktes Singen“ üblich, tiefere Töne sind offener. In der Popmusik ist es weitaus üblicher, mit einer etwas höheren, neutralen Kehlkopfstellung zu singen. Auch ohne Einsatz von Nebenhöhlenresonanzen entsteht so ein „twangy“ Sound, also ein mittigerer, schneidender Klang, der die Eigenheiten in einer Stimme betont. Ein zu hoher, verkrampfter Kehlkopf klingt allerdings nicht nur nach Kermit dem Frosch, sondern schadet auch der Stimmgesundheit. Verkrampfungen sollten aber unabhängig vom Stil vermieden werden.

Sprachverständlichkeit vs. Klanghomogenität

Häufig haben in der Klassik die Vokale den „Vorrang“ vor den Konsonanten. Entsprechend geht es eher um einen gleichmäßige, homogene Vokalisierung. In der Unterhaltungsmusik ist die Sprachverständlichkeit, die Artikulation und damit der gesungene Text von etwas größerer Bedeutung. Oftmals wirkt klassischer Gesang daher weicher, runder als in der Popmusik. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Legato vs. Staccato

Klassischer Gesang ist häufig legato – Töne werden also lange und musikalisch ausgesungen, einzelne Noten gehen beinahe ineinander über und sind sehr „verbunden“. Für Popmusik gilt oft genau das Gegenteil. Hier ist es gängige Praxis akzentuiert und etwas abgehackt, also staccato zu singen. Die Endungen von Noten werden bewusst abgekürzt, insgesamt klingt alles deutlich rhythmischer.

Vibrato

Seit dem 20. Jahrhundert wird die Klassik vom starken Einsatz der Vibrato-Technik dominiert. Vibrato ist das gleichmäßige „Schwanken“ um den zu singenden Zielton herum, ein musikalisches Flattern mit 4-7 Hz. In bestimmten Subgenres der Popmusik ist dies durchaus auch verbreitet. Aber in der klassischen Musik wird diese Technik weniger als sporadischer Effekt am Ende einer Note eingesetzt, sondern vielmehr als durchgängige Farbe der gesamten Darbietung. Das ist nicht unumstritten – schließlich war Vibrato in der Gesangskunst des Belcanto, für manche der Zenith des klassischen Singens, nicht annähernd so verbreitet. Vibrato wird in allen Genres auch häufig benützt um Ungenauigkeiten in der Intonation zu verbergen. So oder so: durchgängiges Vibrato ist beinahe ein Alleinstellungsmerkmal für klassischen Gesang.

Riffs

Sänger bedienen sich gelegentlich sogenannter Koloraturen, auch melismatische Phrasen genannt. Das sind schnelle Abfolgen von Noten auf einer verlängerten Silbe, die sowohl gebunden als auch staccato gesungen werden können. Diese kleinen Passagen müssen harmonisch/melodisch zum Stück passen und bestehen aus mindestens drei diminuierten (verkürzten) Einzelnoten, manchmal aber auch Dutzenden sehr schnellen Notenwechseln.

Mit Koloraturen zeigen Sänger gerne ihre Virtuosität – die saubere Abgrenzung schnell gesungener Noten, z.B. am Ende eines gehaltenen Tons, zeigt eine beeindruckende Kontrolle. In der Klassik werden solche Läufe durchaus eingesetzt – oft als Kadenza in Form längerer Passagen im Mittel- oder Schlussteil eines Stücks. Besonders verbreitet und perfektioniert wurde die Technik vom 16. Jahrhundert bis ca. 1830 in der italienischen Musik – vor allem im Belcanto und der italienischen Oper. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschwinden die virtuosen Koloraturen praktisch ganz. In deutschen Opern und Arien sind Koloraturen generell eine Seltenheit, außer bei einzelnen fröhlichen Stücken für Sopranistinnen.

Riffs und Runs in der Popmusik

Ein „Revival“ erfuhren solche Koloraturen aber in der Popmusik. Vor allem Soul und R ’n‘ B Sängerinnen, von Whitney Houston über Mariah Carey und Christina Aguilera bis zu Beyoncé, erlangten mit ihren geschickten Runs und Riffs (so die gängige Bezeihnung in der Popmusik), große Bekanntheit.

Vor allem Frauen setzen die Technik gerne ein. Aber in Gospel, Funk, Soul und R ’n‘ B sind exzessive Riffs auch bei Männern gerne gehört. Stevie Wonder, Chris Stapleton, Justin Timberlake und viele andere würzen die Melodie mit gekonnten Riffs der ein oder anderen Art. Riffs in der Popmusik sind sehr häufig pentatonisch – basieren also auf einer bluesigen Fünftonskala. Dabei werden gerne auch gezogene Blue-Notes eingebaut, für einen besonders souligen Sound. Es müssen auch nicht viele Noten sein: In der Popmusik reichen manchmal schon kurze „Schlenker“ und geschmackvolle Mini-Riffs an geeigneter Stelle um einer Darbietung das gewisse Etwas zu verleihen. Runs und Riffs sind ein gutes Erkennungsmerkmal für Popgesang.

Stimmeffekte

Wie bereits eingangs erwähnt, ist Pop- und Rockgesang deutlich charaktervoller und individueller als klassischer Gesang. Was in der Klassik eine stimmliche Schwäche oder ein klanglicher Makel wäre, kann in der Popmusik genau das sein, was das Publikum liebt. Joe Cocker, Michael Jackson oder Janis Joplin haben einzigartige Stimmen mit viel Wiedererkennungswert, wären aber in der Klassik kaum vorstellbar.

Dementsprechend setzen Pop/Rock-Sänger auch gerne Stimmeffekte und Modulationen ein, um einer Performance noch mehr Textur zu geben.

Beim Vocal Fry lässt man die Stimmbänder bei der Entstehung eines Tons aneinander reiben, wie bei einem Glottisschlag, wodurch die Stimme irgendwie knarzig oder heiser klingt. Dieser Effekt ist seit etwa 2010 bei weiblichen Indie- und Popsängerinnen sehr beliebt.

Weit geöffnete Stimmbänder lassen viel Luft entweichen, was einen sehr hauchigen Sound gibt. In der Klassik ist so ein Effekt eigentlich undenkbar, im Pop ein häufiges Stilmittel um Intimität und Nähe zu erzeugen.

Shouting, Belting, Blue-Notes, Grunts, abfallende Notenenden und vieles mehr gehört zum bunten Werkzeugkasten eines Pop- und Rocksängers.

Improvisation vs. Training

Ein weiterer Unterschied zwischen klassischem Gesang und einem Pop/Rock-Ansatz ist die Bedeutung der Improvisation.

Viele Rock-, Soul- und (in geringerem Maße) Popsänger singen buchstäblich aus dem Herzen und instinktiv. Schon beim Komponieren der Melodie haben Notenblätter nichts zu suchen und selbst bei Live-Auftritten wird ein großer Anteil der konkreten Darbietung dem Bauchgefühl überlassen. Natürlich haben auch Rocksänger die Songs meinst gut einstudiert, aber die freie Interpretation der Melodie, mehr noch die Phrasierung, der Ausdruck, die Dynamik und Modulation im Gesang finden zu einem nicht zu vernachlässigenden Teil spontan statt. Daher ist etwa bei guten Rocksängern neben einer guten Technik das Talent, die natürliche Begabung zu singen beinahe noch wichtiger. Denn die meisten Zuhörer merken den Unterschied.

Bei der Pop- und Rockmusik erwarten die Hörer traditionell echte Emotionen oder zumindest ein spürbares „Aufgehen“ des Sängers in der Musik. In englischsprachigen Ländern, dem Ursprungsort von Rock ’n‘ Roll, Blues, Soul und co. ist dies noch deutlicher zu erkennen und vor allem zu hören.

Hierzulande gibt es einerseits eine gewisse Verwurzelung in der Klassik, andererseits eine merkwürdige Affinität zu Retorten-Schlager – beides Musikrichtungen, in der die Gesangsperformance bis ins letzte Detail einstudiert ist und ein Sänger selten die Kontrolle aufgibt oder sich wahrhaft öffnet. Die größten Pop- und Rocksänger der Geschichte waren aber alles andere als stocksteif und kontrolliert. Sie haben Leidenschaft, Wildheit, Ausdruck und Spontanität mit technischem Können und großer Musikalität vereint.

Persönliche Einschätzung

Nach meiner persönlichen Auffassung ist Singen nicht in erster Linie eine Disziplin für die Bühne, eine einstudierte Performance, sondern ein intimer, persönlicher Ausdruck der Seele und des Unterbewusstseins. Singen tut gut und kann sogar heilsam sein – aber eben nur, wenn man „loslässt“ und nicht zu verkopft singt. Improvisation ist für mich das Fundament des Musizierens. Ein gutes Gesangstraining sollte begleitend stattfinden und Automatismen hervorbringen, die dem spontanen Singen letztlich nicht im Wege stehen, sondern es beflügeln. Daher bin ich tendenziell ein Verfechter der Pop- und Rockmusik, auch wenn ich natürlich großen Respekt vor der technischen Perfektion und Gleichförmigkeit klassischen Singens habe. Und schließlich haben die genialsten Klassiksänger aller Zeiten auch meist eine große Portion Charakter, auf einem sehr feinen, hohen Niveau, das oftmals nur von anderen Profis entsprechend gewürdigt werden kann.

Videokurs: Der Unterschied zwischen klassischem Gesang und Pop/Rock Gesang

Viel Spaß beim grenzenlos Singen!

Dein Vocal Coach Benjamin Cross

Benjamin Cross

Benjamin Cross ist ein erfahrener Sänger, Multi-Instrumentalist und Musikproduzent der schon in den Charts zu hören war. Bei der OpenMusicSchool unterrichtet er Gitarre, Bass und Ukulele.

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